- Über uns
- Junge NWG
- Aktivitäten
- Karriere
- Meetings
Die Neurowissenschaftliche Gesellschaft und der German Brain Council nehmen hiermit Stellung zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft zur Änderung des Tierschutzgesetzes und des Tiererzeugnisse-Handelsverbots-Gesetzes.
Wir erkennen die Notwendigkeit an, den Tierschutz in Deutschland zu stärken, und begrüßen die Bemühungen, tierschutzrechtliche Regelungen an aktuelle wissenschaftliche und praktische Erkenntnisse anzupassen. Der derzeitige Referentenentwurf adressiert zwar vornehmlich die
landwirtschaftliche Tierhaltung, allerdings betreffen einige Änderungen auch die auf Tierexperimenten basierende Grundlagen- und medizinische Forschung erheblich.
Die geplanten Änderungen des § 17 „Töten ohne vernünftigen Grund“, die damit angedrohten Strafmaße (§ 18) sowie weitere Konsequenzen zur Tierhaltung schwächen aufgrund mangelhafter Rechtssicherheit die wissenschaftliche Forschung unseres Landes. Die drohende Kriminalisierung läßt bereits jetzt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wichtige Bereiche ihrer Forschung einstellen. Junge Forscherinnen und Forscher arbeiten entweder nicht mehr in der Biomedizin oder sie verlassen das Land. Diese Gesetzeslage bedeutet eine Blockade des wissenschaftlichen Fortschritts, und damit eine Behinderung der Entwicklung neuer Behandlungen und Therapien für kranke Menschen. Es ist von
entscheidender Bedeutung, dass die Gesetzgebung klar definiert ist und ein angemessenes Gleichgewicht zwischen Tierschutz und wissenschaftlichem Fortschritt gewährleistet wird.
Daher unterstützen wir uneingeschränkt die Stellungnahmen und Verbesserungsvorschläge der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Deutschen Gesellschaft für Versuchstierkunde (GV-SOLAS) sowie der Initiative „3R-Forschung.de“.
Im Folgenden werden die Notwendigkeit tierexperimenteller Arbeiten für die Hirnforschung und die Hirngesundheit der Menschen hervorgehoben. Zusätzlich wird der Punkt Erfüllungsaufwand adressiert, der im Entwurf nur in Bezug auf die Wirtschaft und die Verwaltung beziffert ist, nicht aber für die
ebenfalls betroffenen wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen in Deutschland.
Die Neurowissenschaftliche Gesellschaft mit ihren 2.400 engagierten Mitgliedern versteht sich als einer der Grundlagenforschung zum besseren Verständnis des Gehirns verpflichteten Fachgesellschaft. Sie ist Mitglied im German Brain Council, einem Netzwerk von Fachgesellschaften aus vielen sich für die Gehirngesundheit einsetzenden Disziplinen, darunter Neurowissenschaften, Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie, Neurochirurgie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Neuropädiatrie, Neurorehabilitation, Neuroradiologie, Klinische Neurophysiologie, Neuropathologie, Neuroanatomie und
Psychologie, aber auch Patientenorganisationen wie die Deutsche Restless Legs Vereinigung, ADHS Deutschland und die Deutsche Parkinson Vereinigung. Mehr als 60.000 Mitglieder sind damit in einer Allianz gegen Erkrankungen des Nervensystems zusammengeschlossen.
Gehirngesundheit als Lebensqualität und Ressource
Gehirngesundheit ist die Grundlage für das Wohlergehen unserer Gesellschaft. Im Gegensatz zu den meisten anderen Organen oder Krankheitsgebieten treffen neurowissenschaftliche sowie neurologisch-psychiatrische Forschung aufgrund der Komplexität unseres Gehirns im ununterbrochenen Wechselspiel mit seiner Umwelt auf zahlreiche noch nicht entschlüsselte Funktionen. Neue experimentelle Ansätze werden kontinuierlich für das Verstehen und Behandeln von Krankheiten entwickelt. Rund 29 Millionen Menschen in Deutschland, also ein Drittel der Bevölkerung, erfüllen die Kriterien einer psychiatrischen oder neurologischen Diagnose – mit gravierenden Folgen. Diese Erkrankungen führen zu immensen persönlichen und gesellschaftlichen Belastungen. Die Volkswirtschaft wird durch den Verlust an Lebensqualität und Leistungsfähigkeit vieler Menschen geschwächt. Unser Gesundheitssystem ist überlastet, die Innovationskraft bedroht. Eine gesunde Gehirnfunktion ist Voraussetzung für körperliche und geistige Gesundheit. Sie ist der Schlüssel für Bildung, Kreativität und wissenschaftlichen Fortschritt. Wir müssen die Gehirngesundheit ins Zentrum gesundheitspolitischer Bemühungen rücken und Gehirnerkrankungen höchste Priorität einräumen. Nur so können wir die immensen gesundheitlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kosten senken. Die Förderung der Gehirnforschung ist eine Investition in die Zukunft unseres Landes. In Deutschland entstehen durch Gehirnerkrankungen pro Jahr über 60 Milliarden Euro direkte Kosten für das Gesundheitswesen, was fast 20% aller Gesundheitsausgaben entspricht. Die Gesamtkosten von Gehirnerkrankungen für die deutsche Volkswirtschaft liegen mindestens dreimal so hoch. Störungen im frühen Lebensalter können ein Leben lang zu Einschränkungen führen, beispielsweise in Bildung oder Lebenserwartung.
Notwendigkeit von Tierversuchen
Tierversuche werden nur durchgeführt, wenn alle Alternativmethoden ausgeschöpft sind. Vor allem in der Grundlagenforschung fehlen jedoch grundlegende Informationen über Wirkmechanismen im lebenden Organismus, die es bisher unmöglich machen, Alternativmethoden zu entwickeln.
Um die grundlegenden Mechanismen neurologischer Erkrankungen zu verstehen und neue Therapien im Rahmen einer translationalen Forschung entwickeln zu können, sind Tierversuche für die Hirnforschung unerlässlich. Diese Forschung ist von entscheidender Bedeutung für das Wohl vieler
Menschen mit neurologischen Erkrankungen. Allein in den letzten 10 Jahren haben Tierversuche zu zahlreichen wichtigen Erkenntnissen über die Hirnfunktion und die Entwicklung neuer Therapien für neurologische Erkrankungen geführt. Beispielhaft seien hier genannt:
1. Entschlüsselung der neuronalen Grundlagen von Lernen und Gedächtnis:
2. Fortschritte bei der Behandlung von neurodegenerativen Erkrankungen:
3. Entwicklung neuer Therapien für Hirntumore:
4. Verbessertes Verständnis von Hirnverletzungen und Schlaganfall:
Wir sind uns jedoch bewusst, dass Tierversuche nur ein Teil der biomedizinischen Forschung darstellen können. Tierversuche dienen der Aufklärung grundlegender Pathomechanismen und der Risikominimierung für Patientinnen und Patienten. Ihre Ergebnisse müssen aber immer noch in klinischen
Studien am Menschen bestätigt werden, bevor sie als neue Therapien für Patienten verfügbar werden.
Ökonomische Kosten der Tierschutz-Novelle für Forschungsinstitutionen
Im Referentenentwurf zum Tierschutzgesetz sind Berechnungen zum Erfüllungsaufwand des Gesetzes für die Wirtschaft und die Verwaltung genannt. Es wird von jährlichen Kosten in Höhe von 106.039.000 Euro für die Wirtschaft und 10.842.000 Euro für die Verwaltungen (95,7% bei Ländern und Kommunen) ausgegangen. Für die Wirtschaft entfallen diese Kosten auf ca. 750 Millionen Schlachttiere, also ca. 0,14 Euro pro Tier. Die Auswirkungen des Tierschutzgesetzes betreffen aber auch die deutsche Forschungslandschaft, insbesondere die Universitäten. In der großen Mehrheit der Tierexperimente werden gentechnisch modifizierte Mäuse verwendet. Für das eigentliche Experiment können nur Tiere mit einem bestimmten definierten genetischen Ausprägung (Genotyp) eingesetzt werden. Bei der Zucht entstehen aber zwangsweise auch Tiere mit einem nicht experimentell nutzbaren Genotyp. Derzeit herrscht eine gesetzliche Unsicherheit, wie mit diesen Tieren verfahren werden soll, ob diese Tiere getötet werden dürfen.
Aufgrund der Tatsache, dass in Deutschland der „vernünftige Grund“ zum Töten eines Tieres ungenügend definiert ist, sind zwischen den betroffenen Forschungsinstitutionen und den Genehmigungsbehörden informelle Vereinbarungen zum Zwecke der Praktikabilität entstanden. Die sogenannte „Kaskadenregelung“ erlaubt das Töten eines Tieres, wenn die Haltungskapazität einer Einrichtung einen Schwellwert (z.B. 80%) überschritten hat. Bei diesen Abmachungen wurden bisher nicht die finanziellen Konsequenzen berücksichtigt. Im Jahr 2022, wurden in Deutschland rund1,77 Millionen Tiere getötet, die nicht in Tierversuchen verwendet wurden, während rund 2,4 Millionen Tiere für wissenschaftliche Zwecke genutzt wurden. Durch die Kaskadenregelung werden die aufgrund ihres Genotyps für die wissenschaftliche Forschung nicht nutzbaren Mäuse etwa 100 Tage länger
gehalten. Die Haltung einer Maus kostet pro Tag etwa 0,30 Euro. Daraus ergeben sich für die Zahlen des Jahres 2022 Mehrkosten in der Maushaltung für die staatlichen Forschungseinrichtungen von 53 Millionen Euro. Für eine tierexperimentell arbeitende Arbeitsgruppe an einer deutschen Hochschule
mit 400 Überschusstieren für 100 Tage entstehen so Mehrkosten von 12.000 Euro im Jahr. Diese Kosten müssen aus den Landesbudgets der Hochschulen getragen werden, da die Zuwendungen aus Drittmitteln, z.B. der DFG, nur für die im Experiment genutzten Tiere, nicht aber für die aufgrund ihres Genotyps nicht nutzbaren Tiere gewährt werden. Zusatzausgaben von 12.000 Euro im Jahr übersteigen das von der Universität gewährte Sachmittel-Budget vieler Professorinnen und Professoren deutlich.
Zukunft der biomedizinischen Forschung
Die unklare Regelung von Tierversuchen und der Tötung von Tieren durch das Tierschutzgesetz, die Aushandlung informeller Absprachen zwischen den Genehmigungsbehörden und den Forschungstreibenden sowie die Androhung von hohen Geld- und Haftstrafen schaffen eine Rechtsunsicherheit, die gerade bei allen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern in der tierversuchsabhängigen biomedizinischen Grundlagenforschung zu einer großen Verzweiflung und Perspektivlosigkeit führt. Viele von ihnen entscheiden sich entweder das Forschungsgebiet oder das Land zu verlassen. Aktuell haben wir keine Handhabe diesen „brain drain“ zu verhindern. Durch die geplante Novelle im Tierschutzgesetz wird eine weitere Hürde in der Wissenschaft aufgebaut, die junge Menschen vor der Entscheidung einer wissenschaftlichen Karriere in Deutschland abschreckt. Die rechtliche Unsicherheit, die für das wissenschaftliche Personal geschaffen wird, sowie die Verantwortung, die gerade junge Führungskräfte als Tierversuchsleitende für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen müssen, sind die zentralen Elemente dieser Hürde. Somit wird der Wissenschaftsstandort Deutschland bereits nach dem Master-Abschluss unattraktiv.
Um die Fortführung exzellenter Forschung und die Entwicklung dringend benötigter Therapien zu gewährleisten, ist es unabdingbar, dass wir sowohl rechtssichere Regularien durch das Tierschutzgesetz als auch eine entsprechende Erhöhung der institutionalisierten Förderung sicherstellen. Ein klares Bekenntnis zur Durchführung tierexperimenteller Arbeiten ist für die Grundlagen- und medizinische Forschung essentiell, ebenso wie eine Gesetzgebung, die die Wissenschaftsfreiheit schützt. Ohne geeignete Rahmenbedingungen ist die Zukunft der neurowissenschaftlichen Forschung in Deutschland gefährdet. Dies würde die Entwicklung dringend benötigter Therapien für Millionen leidende Menschen verhindern und ihre Lebensqualität drastisch mindern. Die Dringlichkeit und Wichtigkeit dieser Maßnahmen können nicht hoch genug eingeschätzt werden, da sie direkt das Wohl der Menschen beeinflussen.
Vorschläge für Gesetzesnovellen zu Verbesserung des Tierwohls und der Tiernutzung
In unseren Augen wird der in Art. 20a des Grundgesetzes verankerte Tierschutz weder im gültigen Tierschutzgesetz noch in der aktuellen Novelle aufgrund seiner Komplexität rechtssicher zum Wohle von Mensch und Tier geregelt. Wir regen an, dass in einer zukünftigen gesetzlichen Regelung des
Tierschutzes vier Kategorien von Tieren unterschieden werden: frei lebende Tiere (Wildtiere), Haustiere, Nutztiere (Landwirtschaft/Ernährung) und Versuchstiere (Wissenschaft und Forschung). Auf diese Weise könnte das Tierwohl am besten im Spannungsfeld zwischen Biodiversität und kommerzieller wie wissenschaftlicher Nutzung berücksichtigt werden.
Zusätzlich sollte das Gentechnikgesetz (GenTG) dringend überarbeitet werden, um die Verwendung von wissenschaftlich nicht nutzbaren, überzähligen Tieren als Futtertiere unter Einhaltung entsprechender Sicherheitsvorschriften zu ermöglichen. Tötung zur Nutzung als Futtertier wäre ein weiterer
„vernünftiger Grund“ für die Tötung eines Versuchstieres und würde eine sinnvolle Verwendung im Sinne des 3R-Prinzips darstellen. Aus tierschutzrechtlicher Sicht ist es unverständlich und fragwürdig, warum in zoologischen Gärten extra Futtertiere gezüchtet und getötet werden, während diese in der Wissenschaft unvermeidbar entstehen und zur Verfügung gestellt werden könnten. Eine entsprechende Änderung des GenTG wäre vollständig im Einklang mit Art. 20a des Grundgesetzes, in dem der Tierschutz als Staatsziel anerkannt wurde.
29. Februar 2024
Prof. Dr. Frank Kirchhoff
Präsident
Neurowissenschaftliche Gesellschaft e.V. (NWG)
Website: https://nwg-info.de/
Prof. Dr. Thomas Mokrusch
Präsident
German Brain Council e.V. (GBC)
Website: https://braincouncil.de/